Frühling lässt sein blaues Band Wieder flattern durch die Lüfte; Süße, wohlbekannte Düfte Streifen ahnungsvoll das Land. Veilchen träumen schon, Wollen balde kommen. – Horch, von fern ein leiser Harfenton! Frühling, ja du bist’s! Dich hab ich vernommen!
Eduard Mörikes Gedicht »Er ist’s«, 1829 entstanden und 1832 veröffentlicht, ist kurz.
Neun Verse reichen, um das lyrische Ich davon zu überzeugen, dass es tatsächlich der Frühling ist, den es »vernommen« (V9) habe. Und der Ausruf »Frühling, ja du bist’s« (V8) steht dann als zentrale Aussage des Gedichts für sich allein, als einziger Vers nicht mit einem Reim in das Gefüge des Gedichts eingebunden. – Doch der Reihe nach.
Mörikes Gedicht »Er ist’s« gilt als einfach. Es findet sich unter anderem in Lehrwerken zum Deutschunterricht der fünften Klasse. – Was gibt es da schon zu verstehen? In diesem Gedicht ist doch alles klar. Zumindest dann, wenn man weiß, dass das Wort Veilchen eine Blumenart bezeichnet, die im April und Mai blüht, wenn man weiß, was eine Harfe ist und welche Töne sie erzeugt – oder ist hier in Vers 7 etwa eine Äolsharfe gemeint? Und wenn man etwas vernommen hat, weist dies nicht auf polizeiliche Aktivitäten, sondern auf die Wahrnehmung von etwas – in diesem Fall die Ankunft des Frühlings – hin.
Diese Relativierung der Einschätzung, dass das Gedicht einfach sei, kommt nicht von ungefähr Sie spiegelt Erfahrungen des Einsatzes in Unterrichtskontexten wider, wobei die angedeuteten Hürden beim Verständnis nicht die Regel, aber eben alle schon vorgekommen sind. – Von diesen kleinen Hürden abgesehen ist das Gedicht aber wirklich ein einfach zu verstehendes. Dies liegt sicher daran, dass es sich um ein Gedicht handelt, in dem Inhalt und Form so meisterhaft miteinander verwoben sind, dass die Form und all der künstlerische Gestaltungswillen beim Lesen überhaupt nicht auffallen.
Das Gedicht hat neun Verse, die in einer Strophe gleichmäßig alternierend in Trochäen ihre Bahnen dem »blauen Band« (V1) ähnlich »flattern[d]« (V2) ziehen. Dabei ist die Zahl der Silben und Hebungen in den Versen leicht unterschiedlich, wie es der frühlingshafte Wind nun einmal ist, der die »wohlbekannte[n] Düfte« (V3) durch das Land streifen lässt (vgl. V4). Vier Hebungen bei sieben und acht Silben in den Versen 1–4. Am Ende von V2 steht ein Semikolon. Dieser »Halbpunkt« steht hier, weil die Perspektive vom Tastsinn, der den (wohl eher leichten) Wind wahrnimmt, zum Geruchssinn wechselt, der »wohlbekannte Düfte« (V3) wahrnimmt, die aber ohne den Wind (»flattern« »Lüfte« V2) nicht wahrnehmbar wären. Entsprechend sind der zweite und dritte Vers miteinander gereimt (»Lüfte« (V2) – »Düfte« V3), umarmt von den Reimwörtern des ersten und vierten Verses (»Band« (V1) – »Land« (V4). Somit bilden die ersten Verse inhaltlich und formal eine Einheit. In diesen Versen »lässt« der Frühling »sein blaues Band« (V1) flattern, die Düfte »streifen« (V4) durch das Land, sodass der Frühling hier personifiziert auftritt. Bereits das »Er« im Titel deutet eine solche metaphorische Personifikation der Jahreszeit an, die dann entsprechend auch mit »Du« (V8) direkt angesprochen wird.
In den Versen 5–9 findet sich als Metrum weiter der Trochäus, nun in Versen mit fünf und sechs Silben, ausgenommen V7, der neun Silben hat. Die »Veilchen träumen schon«, sind also bereits zu erahnen und bald werden sie dann »kommen«. Auch ihnen wird als Träumenden eine personale Dimension gegeben. Zudem wird in diesen Versen wohl der Sehsinn angesprochen oder aber die Erinnerung, was im Frühling zu erwarten ist. Da das Gedicht sich stark an der sinnlichen Wahrnehmung des lyrischen Ichs orientiert, werden es wohl die ersten Triebe der Veilchen sein, die hier gesehen werden.
Und dann, in der Ferne – ein Gedankenstrich steht für das Aufmerken des lyrischen Ichs am Beginn des siebten Verses – ein leiser Harfenton. Ist es eine Harfe, die jemand spielt oder meint das lyrische Ich die Äolsharfe, die von der dahinfließenden Luft zum Klingen gebracht wird? Das bleibt hier offen. Aber all diese Sinneswahrnehmungen lassen das lyrische Ich zu der Schlussfolgerung »Frühling, ja du bist’s!« (V8) gelangen. Wäre dieser Vers nicht, wären die Verse fünf, sechs, sieben und neun über Kreuz gereimt (»schon« – »kommen« – »Harfenton« – »vernommen«). So aber unterbricht die Einsicht mit einem reimlosen Vers (Fachbegriff: Waisen) die Sinneswahrnehmung, die in dem »Dich hab ich vernommen« noch einmal zu sich selbst findet, denn es geht in dem Gedicht um die Wahrnehmung der Sinnesreize, die mit der Ankunft des Frühlings verbunden sind.
Das Gedicht spiegelt jenen Tag im Jahr wider, an dem man –zumindest dann, wenn die vier Jahreszeiten wirklich noch als solche wahrnehmbar sind, was angesichts der immer wärmer werdenden Winter immer schwieriger wird – morgens an das Fenster oder vor die Tür tritt und weiß: Jetzt ist der Frühling wirklich da. Nicht nur ein die Sinne täuschender wärmerer Tag im Vorfrühling, sondern er selbst, dem man dann zurufen mag »Frühling, ja du bist‘s«. Der Tast-, Hör-, Geruchs- und Sehsinn werden direkt angesprochen; der Geschmackssinn klingt in den Worten »Süße […] Düfte« (V3) zumindest an. So kann man sagen: Es sind alle fünf Sinne des lyrischen Ichs, die Zeichen des Frühlings vernehmen und zu dem Schluss gelangen: »Frühling, ja du bist‘s«. Der Frühling wird hier direkt angesprochen, während die Überschrift noch das unpersönlichere »Er ist’s« nutzt. Auch hier eine Veränderung, hin zum vertrauter klingenden Du.
Doch nicht nur um die Identifikation des Frühlings mittels aller Sinne geht es in diesem Gedicht, sondern auch um die Erinnerung an vergangene Frühlinge, denn nur, wer den Frühling schon erlebt hat, kann aufgrund der Sinneswahrnehmung zu der Schlussfolgerung gelangen, dass dieser nun wieder da ist. Auch das klingt in dem »von fern ein leiser Harfenton« (V7) an. So konkret er in dem Gedicht gemeint sein mag, so weist er auf das Zusammenspiel von Nähe und Distanz hin, von Erinnerung und aktueller Sinneswahrnehmung, aus der dieses Lied, aus der die Lebenslust entspringt, die Mörike in diesem lyrischen Kleinod so wunderbar zum Klingen bringt.
Für das lyrische Ich ist diese Erfahrung des Frühlings mit allen Sinnen eine ganzheitliche Erfahrung. Sie steht vor der Erkenntnis »Frühling, da du bist’s! / Dich hab ich vernommen!« (V8f), die die begriffliche, die Erfahrung einordnende Vernunft mit ins Spiel bringt. Denn erst dort, wo der Mensch mit den Sinnen und dem Verstand der Wirklichkeit begegnet, wird diese umfassend wahrgenommen und verstanden.
Mörikes »Er ist’s« verbindet den Inhalt mit der Form in einer so gelungen Weise, dass ein – ich glaube, auf das Wort »nahezu« kann ich in diesem Fall verzichten – perfektes, rundum gelungenes Gedicht vorliegt, dessen »Einfachheit« mit der Komplexität so sehr harmoniert, dass beim Lesen oder Aufsagen nur die Einfachheit bleibt, mit der das lyrische Ich den Wiedereinzug des Frühlings als ganzer Mensch erlebt und besingt.
Dieser Text ist ohne Nutzung künstlicher Intelligenz verfasst worden. Die Überarbeitung und Korrektur erfolgte mit der Unterstützung durch ein Korrekturprogramm. ↩
Aufmerksamen Leser:innen mag auffallen, dass ich auf die Kadenzen im Gedicht nicht explizit eingehe. Das liegt daran, dass diese den Reimwörtern folgen und somit in den Versen 1–4 dem umarmenden Reim gemäß männlich, weiblich, weiblich, männlich sind; in den Versen 5, 6, 7, 9 folgen sie dem Kreuzreim. Nur Vers 8 ist hier ausgenommen, der eine männlich-stumpfe Kadenz aufweist. Zu Kadenzen folgender Link: https://www.uni-muenster.de/MhdMetrikOnline/sites/metrik/3.1.1.20_lyrische-KadenzenII.php Da die Kadenzen neben dem Reimschema keinen weiteren Erkenntnisgewinn mit sich bringen, habe ich sie in der Interpretation vernachlässigt, will an dieser Stelle aber der Vollständigkeit halber auf diese hinweisen. ↩
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